Der 2. Sonntag im September

27. September 2020

Das Spätsommerwetter und die gepflegte Anlage am OdF-Ehrenhain in der Wriezener Straße in Strausberg bildeten einen würdigen Rahmen für die Gedenkveranstaltung des Kreisverbandes Märkisch-Oderland der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten am 13.September, dem Gedenktag für die Opfer des Faschismus, der nun schon seit 75 Jahren begangen wird. Es hatten sich etwa 50 Menschen versammelt, unter ihnen die Landtagsangeordnete der Partei DIE LINKE Bettina Fortunato und Strausbergs Bürgermeisterin Frau Stadeler, die Abstand haltend, die Gedenkansprache des Kreisvorsitzenden Niels-Olaf Lüders hörten, der mit emotionalen Worten vom Leben seines Großvaters, Georg Jänecke erzählte. Dieser war „ein einfaches KPD-Mitglied“ und wurde 1939 denunziert und verhaftet. Er wurde erst nach Sachsenhausen verschleppt, danach Dachau, Buchenwald und zum Schluss ins Außenlager Langenstein-Zwieberge bei Halberstadt. Aufgrund von Verletzungen und einer Erkrankung an Tuberkulose konnte sich Jänecke dem Todesmarsch entziehen und wurde am 11. April 1945 von den Amerikanern befreit.

Die Worte von Niels-Olaf Lüders mahnten, das Gedenken aufrecht zu erhalten und gleichzeitig die aktuelle Entwicklung der deutschen Gesellschaft kritisch zu hinterfragen, die sich abzeichnenden Parallelen zur gesellschaftlichen Entwicklung in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu erkennen und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Und die heißen: Wehret den Anfängen!

Im anschließenden Teil der Veranstaltung wurde musikalisch durch das Gesangsduo Pia und Cassy und dem ergreifenden Vortrag einer jungen VVN-BdA Aktiven aus Strausberg einer Opfergruppe des faschistischen Systems gedacht, die lange nicht als solche anerkannt und der auch nicht hinreichend gedacht wurde: Sinti und Roma. Mit der Schilderung des Schicksals des jungen Boxers Johann Trollmann, Sohn einer sinto-deutschen Familie, wurde das Schicksal einer Volksgruppe dargestellt, aus deren Reihen Tausenden dem völkischen Rassenwahn zum Opfer fielen.

Der Kreisverband der VVN-BdA setzte damit eine junge Tradition des Gedenkens an verschiedene Opfergruppen anlässlich dieses Gedenktages fort und vervollständigte das Spektrum der Opfergruppen.

Das Niederlegen der vielen mitgebrachten Blumen am Gedenkstein bildete den würdigen Abschluss dieser Gedenkveranstaltung.

Wolfram Wetzig

Kreisvorsitzender MOL VVN-BdA

Hier dokumentieren wir den VVN-BdA Gedenkvortrag in Erinnerung an Johann Trollmann:

„Johann Trollmann wird am 27. Dezember 1907 als Sohn einer sinto-deutschen Familie in der Nähe von Gifhorn geboren. Da seine aufrechte Statur an einen gerade gewachsenen, schönen Baum erinnert, geben ihm seine Eltern den Namen „Rukeli“.

Ruk bedeutet in der Sprache der Sinti und Roma, dem Romanes, soviel wie Baum.

Trollmann wächst mit acht Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf. Schon früh zeichnet sich sein großes Talent zum Boxen ab und bereits mit acht Jahren steigt er erstmals in den Ring, um einen Sport auszuüben, der bis zum Ende des Kaiserreichs verboten war. Bald gewinnt er mehrere Preise.

Das Boxen, lange als „Proletensport“ deklassiert, wird in den 1920er Jahren immer bekannter und bald ein offiziell anerkannter Sport. Zugleich ist das Boxen ein beliebtes Freizeitvergnügen, zu populären Kämpfen strömten Hunderte. Trollmann wird in diesen Jahren ein versierter Mittelgewichtsboxer, der schnell und extrem beweglich ist und dennoch hart zuschlagen kann.

Sein Stil ist spektakulär und kommt beim Publikum gut an. Im Januar 1929 wechselt er zu dem bekanntesten Arbeitersportverein Hannovers, dem BC Sparta Linden, nachdem er vom Reichsverband nicht zu den Olympischen Spielen von 1928 in Amsterdam aufgestellt wurde. Unter fadenscheinigen Begründungen wird behauptet, seine Leistungen seien ungenügend; wahrscheinlicher ist jedoch die Vermutung, dass die olympische Nationalmannschaft nicht von einem Sinto vertreten werden sollte.

Mit seiner wachsenden Bekanntheit gibt die Sportpresse Johann Trollmann bald den Beinamen „Gypsy“; häufig wird er als „tanzender Zigeuner“, der „undeutsch“ boxte, rassistisch diffamiert.

1929 fasst er den Entschluss, Profiboxer zu werden und macht sich schnell einen Namen. Der Boxsport hat auf einen wie Rukeli gewartet, ein eleganter Boxer, ein echter Fighter, ein gutaussehender Mann. Von nun an kommt der deutsche Boxsport an Trollmann nicht mehr vorbei.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 ändert sich das Leben Trollmanns – und der Sport. Die Nationalsozialisten instrumentalisieren das Boxen für ihre Ziele. Der Boxsport heißt von nun an „deutscher Faustkampf“ und soll eine zentrale Rolle in der so genannten NS-Leibeserziehung spielen.

Die Boxclubs in Deutschland werden zentralisiert und arisiert. Damit beginnt die Ausgrenzung und Verfolgung „nicht-arischer“ Sportler*innen lange vor dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze 1935. Johann Trollmann ist jedoch zu beliebt und zu erfolgreich, als dass man ihn sang- und klanglos hätte aus dem Boxsport verdrängen können.
Nicht zufällig wird ihm sein größter Erfolg als Boxer zugleich zum Verhängnis.
Am 9. Juni 1933 tritt Johann Trollmann in der Berliner Bockbierbrauerei zum Meisterschaftskampf im Halbschwergewicht gegen Adolf Witt an und gewinnt diesen klar nach Punkten. Für die Nationalsozialisten stellt sein Sieg eine Bedrohung dar, denn Trollmann demontiert das propagandistische Bild vom körperlich überlegenen, arischen Herrenmenschen und macht deutlich, wie konstruiert diese Vorstellung ist.

Im Publikum sitzt der überzeugte Nationalsozialist Georg Radamm, der Vorsitzende des „Verbandes deutscher Faustkämpfer“. Radamm gibt der Jury Anweisungen, den Kampf als unentschieden zu werten, als klar wird, wie der Kampf enden würde. Und die Jury befolgt dies.

Das Publikum hat Trollmann jedoch über sechs Runden hinweg als den überlegenen Boxer erlebt. Nach einer halben Stunde lautstarkem Protest und Drohungen gegen die anwesenden nationalsozialistischen Funktionäre wird Trollmann der Siegkranz um den Hals gehängt. Dem erschöpften Boxer laufen die Tränen über die Wangen – aus Wut über den zunächst nicht anerkannten Sieg und aus Freude über den doch noch zuerkannten Meisterschaftstitel.

Die Freude währt kurz; nur eine Woche nach dem Kampf wird ihm der Meisterschaftstitel wieder aberkannt, da beide Boxer „ungenügende Leistungen“ erbracht hätten.

Doch auch ohne Titel bleibt Johann Trollmann ein Publikumsliebling und den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Seine Karriere sollte endgültig beendet und Trollmann als Boxer diskreditiert werden.
Vor seinem Kampf am 21.7.1933 gegen den bekannten und schlagkräftigen Weltergewichtler Gustav Eder, wird ihm deutlich nahe gelegt, dass der Entzug seiner Lizenz als Boxer drohe, sollte er vermeintlich „undeutsch“ boxen.
Trollmann, der Aussichtslosigkeit seiner Lage bewusst, steigt mit hell gefärbten Haaren und weiß gepuderter Haut in den Ring. Mit Verzicht auf die für seinen Stil elementare Beinarbeit, ohne vor den Schlägen weg zu pendeln, stellt er sich dem „deutschen Kampf“. Nach 5 Runden ist er k.o. geschlagen und seine Karriere als Boxer endgültig besiegelt.

Das trotzige Aufbegehren im Moment des Untergangs – für diesen mutigen Akt des Widerstandes wird Trollmann bei den deutschen Sinti und Roma als Held gefeiert.

Die Verfolgung von Sinti und Roma nimmt nach dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze 1935, in denen nicht nur die systematische Ausgrenzung und Entrechtung von Juden und Jüdinnen sondern auch von Sinti und Roma festgelegt wurden, immer stärker zu.


Die „Arisierung“ von Wohnraum betrifft fortan Juden genauso wie Sinti und Roma. Letztere werden gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben, um in Zwangslager wie in Berlin-Marzahn umzuziehen. Auch Mitglieder der Familie Trollmann werden inhaftiert und vor die nicht zu beantwortende Frage gestellt, sich entweder sterilisieren oder ins Lager deportieren zu lassen.

Mit dem im Dezember 1938 in Kraft tretenden, gegen Sinti und Roma gerichteten Runderlass, nimmt die Verfolgung noch an Schärfe zu. Der Weg in die Vernichtung zeichnet sich nun deutlich ab.
Bereits 1938 war Trollmann für mehrere Monate ins Arbeitslager Hannover-Ahlem verschleppt worden. Nach seiner Entlassung lebt er im Verborgenen, um weiteren Verhaftungen zu entgehen.

1939 wird er in die Wehrmacht einberufen; vom Kämpfen fürs Vaterland sind Sinti und Roma noch nicht ganz ausgeschlossen. Nachdem er als Infanterist in Polen, Belgien und Frankreich stationiert war, wird er im Frühjahr 1941 an die Ostfront geschickt, wo er nach dem Überfall auf die Sowjetunion verwundet wird. 1942 wird er nach einem rassistischen Erlass des Oberkommandos aus der Wehrmacht entlassen. Mehrere Angehörige seiner Familie sind zu diesem Zeitpunkt in Arbeitslager eingepfercht und leisten unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit.

Im Juni 1942 wird Trollmann in Hannover verhaftet und schwer misshandelt. Von der Haftstätte aus wird er im Oktober des gleichen Jahres in das KZ Neuengamme bei Hamburg deportiert.

Dort erkennt ihn der frühere Ringrichter und jetzige SS-Mann Albert Lütkemeyer. Dieser veranlasst, dass Trollmann trotz schwindender Kräfte – er hatte in den 3 Monaten KZ-Haft ca. 30kg an Gewicht verloren – allabendlich nach der Arbeit gegen SS-Männer zum Boxtraining antritt. Das illegale Häftlingskomitee von Neuengamme beschließt, Trollmann eine neue Identität zu geben und ihn aus dem Fokus der SS zu lösen:

Offiziell stirbt er am 9. Februar 1943 an Herz- und Kreislaufversagen, tatsächlich handelt es sich bei dem Toten um einen verstorbener Häftling, dessen Identität weitergegeben wurde. Um der Entdeckung zu entgehen, wird Trollmann ins Nebenlager Wittenberge transportiert.
Aber auch hier entkommt er seiner Vergangenheit als Boxer nicht; er muss sich im Laufe des Jahres 1944 einem vom Lagerältesten inszenierten Kampf mit dem bei Mithäftlingen verhassten kriminellen Kapo Emil Cornelius stellen. Trollmann gewinnt zwar den Kampf, doch wenige Zeit später rächt sich Cornelius für die Niederlage und lässt Trollmann bei einem Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers bis zur Erschöpfung schuften, um ihn dann mit einem Knüppel zu erschlagen.
Johann Trollmanns Tod wird als Unfall angegeben, sein Leichnam mit den vielen anderen Toten des Lagers auf dem Friedhof von Wittenberge verscharrt.
Doch der Häftling Robert Landsberger, der bei dem Arbeitseinsatz Zeuge vom Mord an Trollmann wurde, überlebt das KZ und machte nach der Befreiung eine Aussage über den Tod Trollmanns. Diese blieb im Archiv der Gedenkstätte Neuengamme lange Zeit unentdeckt.

Ende 2003 übergab der Deutsche Berufsboxerverband der Familie des Boxers den Meistergürtel von Johann „Rukeli“ Trollmann, der heute wieder offiziell als Deutscher Meister im Halbschwergewicht geführt wird.

Etwa eine halbe Million Sinti und Roma sind im deutsch besetzten Europa von den Nationalsozialisten ermordet worden. Dieser Völkermord, auf Romanes als „Porajmos“, zu deutsch „Verschlingen“ bezeichnet, wird in der Bundesrepublik jahrzehntelang geleugnet. Das bedeutet für die Überlebenden, dass sie nicht als Opfer der NS-Rassenpolitik anerkannt und dementsprechend nicht entschädigt werden.

Viele der Täter*innen, die für den Völkermord an den Sinti und Roma mitverantwortlich waren, können bei Behörden oder in der Privatwirtschaft ungehindert Karriere machen. Die Deportationen in die Vernichtungslager werden als vorgeblich „kriminalpräventiv“ gerechtfertigt, dieses Denken findet sogar Eingang in die Urteile höchster deutscher Gerichte. Auch in der Wissenschaft und an den ehemaligen Orten der Verfolgung, den Mahn- und Gedenkstätten, bleibt der Völkermord an den Sinti und Roma eine lange Zeit ein Randthema.

Dies ändert sich erst mit der politischen Selbstorganisation der Minderheit, die seit Ende der 1970er Jahre durch öffentlichkeitswirksame Protestaktionen auf sich aufmerksam macht. Zu nennen ist dabei insbesondere der Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Dachau Ostern 1980, der sich gegen die Methoden rassistischer Sondererfassung durch die bundesdeutsches Justiz- und Polizeibehörden richtet.

1982 erfolgte die Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg, der seither die Interessen der in Deutschland lebenden Sinti und Roma vertritt. Im selben Jahr wird der Völkermord an den Sinti und Roma durch die Bundesrepublik endlich anerkannt und der Zentralrat konnte für viele Überlebende Entschädigungen durchsetzen.

In der DDR ist der Porajmos lange Zeit vergessen. Erst im Herbst 1986 wird auf dem Marzahner Parkfriedhof unweit des Geländes des ehemaligen Zwangslagers für Sinti und Roma, ein Gedenkstein für die ermordeten Angehörigen der Minderheit eingeweiht. Dieser erste Gedenkort für Sinti und Roma in der DDR ging auf das langjährige Engagement des Bürgerrechtlers Reimar Gilsenbach zurück.

Nach dem Ende der DDR kommt es in Rostock-Lichtenhagen zu einem Pogrom, der auch über eine antiziganistische Dimension verfügt. Viele Roma aus Osteuropa suchen zu dieser Zeit Schutz in Deutschland und werden vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen in Rostock immer wieder angegriffen.

2012 wird nach jahrelangen und zum Teil unwürdigen Diskussionen das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in unmittelbarer Nähe zum Bundestag eingeweiht. Aktuell soll es durch Bauarbeiten der Deutschen Bahn zeitweise geschlossen werden, wogegen sich Protest regt.

Einerseits sind die Verbrechen an den Sinti und Roma also zumindest in Deutschland „aufgearbeitet“, andererseits wird die Minderheit nach wie vor massiv diskriminiert. Immer wieder kommt es zu rassistischen Morden wie vor einigen Jahren in Ungarn.

Wir gedenken heute mit Johann „Rukeli“ Trollmann stellvertretend den Opfern des Porajmos sowie allen Opfern des Faschismus. Trollmann ist für viele Angehörige der Minderheit sowie für uns Antifaschist*innen ein Vorbild im Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus. Nie wieder Faschismus! Schluss mit der unerträglichen Diskriminierung der Sinti und Roma!“