Erinnerungskultur „von unten“: Start der Onlineausstellung „Erinnerungsort Wulkow“
22. Mai 2024
Am 6. April 2024 wurde die Onlineausstellung „Erinnerungsort Wulkow – ein Außenlager des Ghetto Theresienstadt“ im Campus Schloss Trebnitz gelauncht. Anwesend waren dabei auch Familienangehörige von ehemaligen Wulkower Häftlingen, die extra aus den USA und Tschechien angereist waren. Das Datum wurde gewählt, weil vor einem Jahr, am 13. April 2023 der letzte Wulkower Überlebende Hanuš Hron gestorben war.
Nach Grußworten von Darius Müller, Leiter des Bildungs- und Begegnungszentrums Schloß Trebnitz; sowie Partnerschaftsbeauftragter des Landes Brandenburg für Wielkopolskie / Großpolen, Brigitte Faber-Schmidt, Abteilungsleiterin Kultur im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg sowie Tomáš Kafka, Botschafter der Tschechischen Republik in Berlin führte Nils Weigt, Mitbegründer des Arbeitskreises in das Thema und die Ausstellung ein. Anschließend ergriff Rebecca Segal, Tochter des Wulkower Häftlings Herbert Kolb, das Wort und berichtete von den Erfahrungen ihres Vaters bei Ankunft im Lager. Die ehemaligen Häftlinge sowie ihre Angehörigen kamen auch bei einem kurzen Film zu Wort, den der Arbeitskreis zusammengestellt hatte.
Nach einer Pause fand zudem eine Podiumsdiskussion zur Zukunft der Erinnerung im ländlichen Raum statt. Teilnehmer:innen waren Bernd Pickert (Geschichte hat Zukunft – Neuendorf im Sande e.V.), Deborah Hartmann (Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz), Kornelia Kurowska (Taharahaus Olsztyn) sowie Vertreter:innen des Arbeitskreises. Diese betonten: „Die Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Verbrechen des Nationalsozialismus ist vor dem Hintergrund aktueller Krisen und erstarkender antidemokratischer Kräfte heute wichtiger denn je.“
Moderiert wurde die Veranstaltung von der Journalistin Liane von Billerbeck und musikalisch begleitet von Maren Rahmann.
Baustelle, Zwangslager, Täterort – was war Wulkow?
So fragen wir eingangs in unserer Onlineausstellung. Wulkow war und ist erst einmal eine kleine ruhige Gemeinde. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war es mit dieser Ruhe vorbei. In den Wäldern am Ortsrand, geschützt vor den Aufklärern und Bombern der Alliierten, entstand eine Ausweichdienststelle für das Reichssicherheitshauptamt, genauer für die Gestapo. Errichtet wurde sie von als Jüdinnen:Juden verfolgten Menschen, die eigens aus dem mehr als dreihundert Kilometer entfernten Ghetto Theresienstadt dorthin verschleppt wurden. Wulkow schien unter anderem wegen einem dort bereits verlaufenden Nachrichtenkabel sowie der Nähe zur Ostbahn besonders geeignet zum Bau einer Ausweichstelle.
Überall um Berlin, aber zum Teil auch weiter entfernt befanden sich irgendwelche SS-Dienststellen, die aus Berlin heraus verlegt wurden, zum Beispiel in Müncheberg das SS-Personalhauptamt. Etwas weiter entfernt, in den Rauener Bergen bei Fürstenwalde mussten hunderte KZ-Häftlinge einen Nachrichtenbunker für die SS bauen. Der ländliche Raum Brandenburgs war gegen Kriegsende fest in der Hand der SS mit allen negativen Konsequenzen vor allen für diejenigen, die für die SS in Zwangsarbeit diese Dienststellen errichten mussten.
Am 2. März 1944 verließ ein Zug mit etwa 200 Personen sowie dutzenden Waggons mit Baumaterial das Ghetto Theresienstadt im deutschen besetzten sogenannten „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Wenige Stunden später und nach einer Zugfahrt voller Ungewissheit und Bangen, dass es nicht in die Vernichtungslager „im Osten“ gehen würde, kam der Zug am Bahnhof Trebnitz an. Die erste Nacht schliefen die Häftlinge unter freiem Himmel.
Die Verantwortung für den Bau in Wulkow hatte das sogenannte Eichmann-Referat, also jener Kreis an NS-Tätern die maßgeblich die Massendeportationen von Juden und Jüdinnen in die Vernichtung organisierten. Eichmann selbst war nachgewiesenermaßen anfangs mehrfach in Wulkow. Aber auch viele andere NS-Größen besichtigten die Baustelle regelmäßig – genau beobachtet von den jüdischen Zwangsarbeiter:innen wie Ota Růžička:
„Einmal haben wir auf der Albrechtshöhe gearbeitet, näher an der Straße. Es war am Nachmittag. Plötzlich kam ein Auto aus Wulkow und zwei SS-Generäle stiegen aus, einer mit drei Eichenblättern am Kragen, der andere mit zwei.“
Von einem Posten erfuhren sie in der Folge, dass es Heinrich Müller, der Chef der Gestapo war. Im Sommer 1944 bezogen die ersten Gestapo-Offiziere ihre neuen Büros. Geplant war die Ausweichdienststelle insgesamt für 1000 Mitarbeitern. Ungefähr zur gleichen Zeit im Sommer 1944 war es auch, als das Häftlingslager in der noch heute sichtbaren Sandgrube am Wulkower Ortsrand nach einem weiteren Transport aus Theresienstadt sich als zu klein erwies und umziehen musste.
Die Häftlinge kamen aus dem deutsch besetzten Tschechien, aus Österreich und dem „Altreich“. Knapp zehn Prozent waren Frauen. Viele der männlichen Häftlinge hatten bereits im Ghetto als Handwerker gearbeitet. Der Arbeitseinsatz in Wulkow versprach ihnen und ihren Familien in Theresienstadt Schutz vor den Massendeportationen in die Vernichtung.
Zwischen dem 28. September und dem 28. Oktober 1944, innerhalb von einem Monat, wurden etwa 18.400 Menschen von Theresienstadt aus nach Auschwitz II-Birkenau deportiert. Von ihnen überlebten nur 1.574. Die Wulkower, wie sich die Häftlinge nach der Befreiung nannten und ihre Angehörigen entgingen diesen Massendeportationen zum größten Teil.
In Wulkow selbst ist nachweislich niemand gestorben. Wer zu schwach zum Arbeiten war, wurde von dem gefürchteten SS-Obersturmführer Franz Stuschka aus Wien, einem engen Mitarbeiter Adolf Eichmanns nach Theresienstadt zurückgeschickt und von dort in die Vernichtung deportiert. Dies betraf 108 Personen. Hinzu kamen 45 Personen, die Stuschka als Strafe für geringste Vergehen nach Sachsenhausen oder in die Kleine Festung nach Theresienstadt – ein berüchtigtes Gefängnis der Prager Gestapo – verschleppen ließ. Mindestens 20 Personen habe diese Orte nicht überlebt.
Der digitale Erinnerungsort
Der Erinnerungsort Wulkow ist in vier Hauptkapitel gegliedert. Zugänglich ist er auf deutsch, englisch und tschechisch.
In „Das Lager“ erfährt die Besucherin den nötigen Hintergrund zum Außenlager Wulkow und kann sich auf mehreren Kartenebenen selbstständig die Lagerspuren erschließen. Außerdem gibt es hier drei Kapitel, unter anderem um die Zusammenhänge zwischen Wulkow und dem Ghetto Theresienstadt zu verdeutlichen.
Im Kapitel „Erlebtes“ stehen die Erfahrungen der Häftlinge im Mittelpunkt; im Kapitel „Nach 1945“ geht es nicht nur um die juristische Aufarbeitung.
Das Herzstück unserer Ausstellung sind jedoch die bisher erforschten fünfzehn Biographien, wie jene von Albert Youngman, dessen Sohn und Enkel aus den USA zugeschaltet waren. Das KPÖ-Mitglied Youngman ist nach der Befreiung in die Wiener Kriminalpolizei eingetreten und war maßgeblich an der Verhaftung des Lagerkommandanten Stuschka beteiligt. Youngman hat ihn persönlich verhört sowie zahlreiche Zeugenaussagen seiner Mitgefangenen aufgenommen.
Am 15. Dezember 1949 begann die Hauptverhandlung vor dem Wiener Volksgericht. Zwei Tage später wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt. Bereits Anfang 1951 war Stuschka unter Anrechnung der Untersuchungshaft und zunächst auf Bewährung wieder in Freiheit. Wie so oft wurden NS-Täter nicht ihrer gerechten Strafe zugeführt.
Der Arbeitskreis
Als wir vor drei Jahren begannen, zu Wulkow zu forschen, konnten wir auf Recherchen und Erinnerungsaktivitäten aus den 1990er Jahren aufbauen. Diese waren maßgeblich von der RAA Strausberg e.V. vorangetrieben worden.
2021 gründete sich der Arbeitskreis Wulkow aus der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist:innen heraus. Anfangs aus drei Personen bestehend, sind wir heute zu neunt.
Wir leben und wirken in Wulkow, Müncheberg, Strausberg und Berlin und haben ganz unterschiedliche Hintergründe. Was uns eint, ist der Wille, die Erfahrungen der Häftlinge in Wulkow nicht zu vergessen und darüber hinaus mit unserem Engagement eine lebendige antifaschistische Erinnerungskultur auf dem Land zu stärken, gerade in diesen Zeiten.
Politiker:innen betonen gern, wie erfolgreich die bundesdeutsche Erinnerungskultur ist. Diese musste aber gegen Widerstände erstritten werden von kleinen Geschichtsinitiativen und Geschichtswerkstätten unter dem Motto „Grabe, wo du stehst“. In dieser Tradition verorten wir uns als Arbeitskreis. Nur weil es jetzt die Homepage gibt, ist die aktive Erinnerung an Wulkow nicht vorbei. Am langjährigen Kampf von Überlebenden um die sogenannte Ghettorente waren auch Wulkower Häftlinge beteiligt. Diese Kämpfe zeigen, wenn es um konkrete materielle Entschädigung geht, hat sich Deutschland zu oft aus der Verantwortung gestohlen. Nur ein Beispiel: Die Kosten der Familienangehörigen, die zum Teil von sehr weit her angereist sind, haben sie selber getragen, weil es in keinem uns bekannten deutschen Fördertopf Gelder dafür gibt.
Text und Fotos: Arbeitskreis Wulkow