Redebeitrag: 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

22. Juni 2021

Wir nahmen heute an einer Gedenkveranstaltung aus Anlass des 80. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion in der Gedenkstätte Seelower Höhen teil. Dem Aufruf der Partei DIE LINKE folgten 40 Personen. Zunächst sprach Katharina Slanina, Co-Vorsitzende von DIE LINKE. Brandenburg. Danach hielten wir folgenden Redebeitrag:

»Weinende Zivilisten allerorten. Ob die Menschen nun fahren, sitzen oder am Zaun stehen – schon beim ersten Wort beginnen sie zu weinen, und es schnürt einem selbst die Kehle zu. Welch riesiges Unglück!«

Diese Worte notierte der berühmte sowjetische Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Wassili Grossman in sein persönliches Tagebuch. Neben seinen eher heroischen Artikeln für die Zeitung der Roten Armee Krassnaja Swesda (Roter Stern) scheint hier unmittelbar die unfassbare menschliche Tragödie auf, die am 22. Juni 1941 mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion begann.

Wie viele sowjetische Intellektuelle meldete sich der 35-jährige Grossman freiwillig zur Armee. Im August 1941 wurde er an die Front geschickt und begleitete die Rote Armee fortan von Stalingrad über die Ukraine bis Weißrussland, er erlebte die Befreiung des Vernichtungslagers Treblinka – eingängig beschrieben in seinem Bericht „Die Hölle von Treblinka“ – und den Einmarsch in Berlin. Fast drei von insgesamt vier Kriegsjahren verbrachte Grossman in der Roten Armee.

Bereits in den ersten Wochen des Krieges blieb ihm die antisemitische Dimension des deutschen Angriffs nicht verborgen. – Im Feindbild des „Jüdischen Bolschewismus“ wurden Antikommunismus und Antisemitismus miteinander verschränkt. Insbesondere die sogenannten „bolschewistischen Politkommissare“ wurden dabei als „jüdisch“ dargestellt. – Grossmans Mutter blieb 1941 in Berdytschiw und wollte nicht zu ihm nach Moskau kommen. Zusammen mit den weit über 20 000 Juden und Jüdinnen des Ortes wurde sie ermordet. Grossman erfuhr die näheren Umstände erst Jahre später bei der Befreiung des Ortes durch die Rote Armee.

Der Überfall auf die Sowjetunion war ein Vernichtungsfeldzug ungeheuren Ausmaßes. Die Generalität der Deutschen Wehrmacht machte mit dem Kommissarbefehl, dem Generalplan Ost sowie dem Handeln der Einsatzgruppen deutlich, dass sie dieses Konzept des Vernichtungskriegs von Anfang an unterstützte.

Der Vernichtungswille zeigte sich in zahlreichen Mordaktionen, die Wehrmachtseinheiten und Einsatzgruppen des SD, dem Sicherheitsdienst der SS, gegen jüdische, slawische und Roma-Zivilist*innen in den okkupierten Gebieten verübten. Dieser Vernichtungskrieg brachte unendliches Leid über die Menschen und forderte mehr als 27 Millionen Opfer aus allen Teilen der Sowjetunion.

Diese Gräueltaten niemals zu vergessen oder zu relativieren – dafür stehen wir als Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen ein.

Wir verwahren uns dagegen, dass unter anderen durch die Resolution des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 eine skandalöse Form der Geschichtsverfälschung betrieben wird, indem mit Verweis auf den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg – und damit letztlich auch für den Überfall auf die Sowjetunion – den Opfern selber zugewiesen wird.

Außerdem müssen wir erleben, dass in verschiedenen europäischen Ländern Kollaborateure, Freiwillige in den SS-Verbänden im Baltikum, die „Blaue Division“ in Spanien oder Bandera-Einheiten in der Ukraine als „Freiheitshelden“ gewürdigt werden. Hierin sehen wir verhängnisvolle Formen von Geschichtsrevisionismus, denen wir uns auch international entgegenstellen.

Für die Nachfolgestaaten Russland, Ukraine und Belarus bleibt der 22. Juni ein fortdauernder Gedenktag. Er ist im Gedächtnis der Menschen tief verankert. Während der 8. Mai als Tag der Befreiung eine zunehmend deutschlandweite Resonanz erfahren hat, ist der 22. Juni als Gedenk- und Erinnerungstag hierzulande kaum bekannt.

Bis heute gibt es zudem kein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Lebensraumpolitik, darunter die über 3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen aus allen Teilen der Sowjetunion, die in den Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht zu Tode gehungert wurden oder in eigens dafür errichteten Genickschussanlagen wie im KZ Sachsenhausen ermordet wurden.

Wir erinnern daran, dass es die Einheiten der sowjetischen Streitkräfte waren, die im Verbund der Anti-Hitler-Koalition die Hauptlast der militärischen Befreiung Europas getragen haben. Beginnend im Dezember 1941 mit der Schlacht vor Moskau, bei der die Illusion eines „Blitzkrieges“ platzte, im Februar 1943 mit der Niederlage der 6. Armee bei Stalingrad und dem anschließenden verlustreichen Vormarsch nach Westen.

Wir erinnern an die Zivilbevölkerung von Leningrad, die unter ungeheuren Verlusten – Schätzungen gehen von einer Million Opfern aus – einer Blockade von 900 Tagen standhielt, bevor die Rote Armee den Belagerungsgürtel um die Stadt zerschlagen konnte; an die Zivilbevölkerung, die an der Heimatfront enorme Anstrengungen in der Rüstungsproduktion unternahm.

Wir erinnern an die Partisan*innen, die im Rücken der deutschen Einheiten begannen, die Versorgungswege zu blockieren und durch eigene militärische Aktionen eine große Zahl von Einsatzkräften im Hinterland banden.

Wir erinnern an die westalliierten Verbündeten, die durch Lieferung von Rüstungsgütern und weiteren Materialien die Kampffähigkeit der sowjetischen Streitkräfte unterstützten.

Wir erinnern auch an deutschen Antifaschist*innen wie den kürzlichen verstorbenen Moritz Mebel, die in der Sowjetunion Exil gefunden hatten, aber auch an deutsche Soldaten, die im Krieg auf die sowjetische Seite wechselten, an ihren Anteil als Frontbeauftragte, in Einheiten der Roten Armee und in anderen Formen bei der militärischen Niederschlagung des deutschen Faschismus.

In Erinnerung an alle Menschen, die sich an dieser Front für die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln und die Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit eingesetzt haben.

In diesem Sinne treten wir ein für eine angemessene Erinnerung und Würdigung der Millionen Opfer des Vernichtungskrieges.

Wir treten ein gegen jede Form von Geschichtsrevisionismus und Rehabilitierung von NS-Kollaborateur*innen.

Und schließlich treten wir ein für eine Friedenspolitik, die im kritischen Dialog mit Russland und den anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion wie Ukraine und Belarus eine neue Politik der Entspannung und Abrüstung in Europa ermöglicht.

Vielen Dank.